Ich steh hier und singe

Kratel-Andreas Andreas Kratel, Dr. rer. nat, geb. 1968 ist promovierter Chemiker und Diplom-Theologe. Er lebt in Münster und arbeitet als Abteilungsleiter für Katholikentage und Großveranstaltungen im Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Berlin. Autorenfoto: 102. Deutscher Katholikentag Stuttgart e.V.

Der Chorgesang stellt nach wie vor eine Massenbewegung dar. Andreas Kratel zeigt neben seiner persönlichen Begeisterung für das Singen auch dessen gesellschaftliche Bedeutung auf.

Erschienen in „feinschwarz – Theologisches Feuilleton“:

Im Anfang war das Wort. Wie schade, oder vielmehr: wie einseitig. Man wird in unseren Zeiten überschüttet von Worten. In Nachrichten, auf Tagungen, in Sitzungen, in den sogenannten sozialen Medien, bei Vorträgen und bei Predigten. Dabei gibt es doch eine sehr viel schönere Alternative: Im Anfang war das gesungene Wort. Seit vielen Jahrzehnten singe ich in Chören. Ein Leben ohne Chorgesang könnte ich mir nicht vorstellen. Es gibt für mich kaum etwas facettenreicheres, als in einem Chor zu singen.

Beim Singen lernt man eine neue Sprache.

Im Chor engagiere und verpflichtet man sich, regelmäßig und mit anderen Menschen für ein gemeinsames Projekt aktiv zu sein. Viele hunderttausend Menschen in Deutschland tun dies[2], oft ist damit auch ein ehrenamtlicher Dienst verbunden.[3] Es gibt unzählige Arten von Chören: Kinder- Jugend-, Erwachsenenchöre. Chöre nur aus Frauen oder Männern, gemischte Chöre. Kleine Kammerchöre und große Kantoreien. Chöre, die sich auf bestimmte Literatur festgelegt haben: Renaissance, Gospel, Jazz. Chöre, die ausschließlich a-capella singen und solche, die große Chorwerke mit Orchester aufführen. Es gibt Chorsänger*innen, die hauptamtlich ihren Lebensunterhalt mit Singen bestreiten. Die weitaus größere Zahl von Menschen singt in Chören jedoch als Hobby in der Freizeit.
Beim Singen lernt man eine eigene, quasi neue Sprache. Es ist immer wieder erstaunlich, wie aus Linien, Punkten und Zeichen auf dem Papier Klang wird. Und während Instrumentalist*innen auf ihrem Instrument die meisten Töne vorgegeben bekommen – durch Tasten oder Saiten oder Löcher und Klappen – muss der/die Sänger*in ein Gefühl dafür entwickeln, wo auf dem eigenen Stimmband und im eigenen Körper sich welcher im Notentext notierte Ton befindet. Die Sänger*nnen haben kein Instrument, sondern sind selbst das Instrument. Der Ton muss dann aus der Erinnerung abrufbar sein und genau sowohl dem Ton auf dem Papier als auch dem Ton des Nebenmanns und der Nebenfrau entsprechen.

Mal nicht selbst entscheiden müssen.

Beim Singen im Chor geht es um Einordnung und auch um Unterordnung: die Sänger*innen stellen ihre individuellen Wünsche zurück und lassen ihre Fähigkeiten einfließen in die Gemeinschaft. Sie unterwerfen sich dem Willen des Komponisten, der ihnen vorschreibt, was sie singen sollen und dem des Chorleiters oder der Chorleiterin, der/die festlegt, wie sie singen sollen. Die oft bemühte und eingeforderte, natürlich wertzuschätzende Demokratie bleibt hier mal außen vor. „Chorsingen ist Diktatur“ ist ein hübscher kleiner ironischer Kanon, den ich mal vor vielen Jahren gelernt habe. Ich empfinde es als unheimlich entlastend, mal nicht entscheiden zu müssen. Ich kann wertschätzen, dass Autorität auch positive Seiten haben kann.
Beim Singen muss man ein Gefühl für meinen Leib haben. Jede Chorprobe beginnt mit Körperübungen. Der ganze Körper ist im Einsatz, alle Körperteile müssen gestreckt und gelockert werden. Man bewegt sich nach links und rechts, nach oben und unten. Man streckt sich zum Himmel und beugt sich zur Erde. Der/die Sänger*in braucht einen festen Stand auf dem Boden, mit beiden Füßen. Es ist immer wieder neu eine Suche: wo sitzt die Stimme, wo die Atmung, mit welcher Körperhaltung geht es besser. Wo sind die Resonanzräume im Körper, im Kopf? Viele Chorsänger*innen kennen sicherlich das Bild, dass Kopf und Körper sich anfühlen sollen, als sei man oben am Kopf an einem Faden aufgehängt. Dieser Faden reicht dann bis in den Himmel.

Aufeinander hören ist unerlässlich.

Chorsingen ist ganz besonders eine Frage des Timings: alle Sänger*innen im Chor müssen zur selben Zeit genau dasselbe tun, viele Einzelstimmen verschmelzen homogen zu einer Chorstimme. Erst dadurch aber, dass die anderen Stimmen – Sopran, Alt und Bass – zur selben Zeit andere Töne singen, entstehen die Akkorde, entsteht die Harmonie. Es geht um Ausdruck, darum, den Text von der geschrieben Note und dem geschriebenen Wort in Klang umzusetzen. Aufeinander hören ist unerlässlich: was machen die anderen, höre ich sie noch, oder bin ich zu laut? Bin ich zu schnell oder zu langsam, stimmt der Rhythmus? Es geht nur gemeinsam, ich muss mich manchmal zurücknehmen, manchmal auch mehr geben. Manchmal kann ich mich an meinen Nachbarn/meine Nachbarin hängen, manchmal bin ich derjenige, der die anderen führen muss.

Gemeinschaftsbildend.

Regelmäßiges Singen im Chor hat auch einen stark gemeinschaftsbildenden Charakter. Proben und Konzerte, Probenwochenenden und Konzertreisen, das schweißt zusammen. In Chören sind schon viele enge Freundschaften, ja Partner*innenschaften und Ehen entstanden, wie ich auch aus eigener Erfahrung berichten kann.
Und dann hat der Chor es nach vielen, vielen Proben geschafft: das Stück ist einstudiert, man will und kann es anderen Menschen zu Gehör bringen, im Konzert, im Gottesdienst. Es ist immer wieder aufregend. Alle Chormitglieder ziehen sich besondere, meist festliche, fast immer einheitliche Kleidung an. Auch das bringt zum Ausdruck, dass es hier nicht um das einzelne Individuum, sondern um die Gruppe geht. Dann das Aufziehen auf die Bühne, das Erspüren der gespannten Erwartung des Publikums. Manchmal erkennt ein*e Chorsänger*in bekannte Gesichter im Publikum, manchmal sind einem/einer alle diese Menschen ganz fremd. Es wird ganz still. Der Chorleiter oder die Chorleiterin hebt die Hände, alle holen gemeinsam Luft – und dann füllt der Chor den Raum mit den Tönen, mit menschlichem Klang. Es entsteht nicht nur die Musik als Ereignis, jeden Augenblick neu, flüchtig und vergänglich. Es entsteht auch eine Beziehung zum Publikum. Als Chorsänger*in soll man ja eigentlich immer zur Chorleitung schauen. Manchmal wagt man aber – natürlich nur wenn gerade eine Pause im Notentext steht – einen Blick ins Publikum. Man bemerkt ganz unterschiedliche Regungen: Aufmerksamkeit, Freude, Erstaunen, Entspannung (bei manchen auch mal bis zum Einschlafen), bei lauten Stellen auch mal ein Erschrecken, bei leisen Stellen Hingabe und Innigkeit. Gar nicht so selten kann man bei einzelnen Zuhörer*innen auch Tränenglanz in den Augen entdecken. Dann weiß man: es ist geschafft, nicht nur die Ohren und Köpfe, sondern auch die Herzen der Menschen zu erreichen, für der Chor singt.

Keine Epoche ohne Chor.

Mit dem Chorgesang ist man eingebunden in eine hunderte von Jahren zurückreichende Tradition. Auf besonders unterhaltsame Weise hat dies in der Spielzeit 2022/23 ein Theaterstück von René Pollesch an der Volksbühne Berlin gezeigt: das Ensemble aus 12 Frauen spielt 90 Minuten lang in einem Sprechgesang als Rolle gemeinsam „Die Chor“, die von Anfang an da war: im weiten Bogen von der antiken Tragödie über die Chormusik von Renaissance und Barock, bis hin zu den Sprechchören von Einar Schleef und den Backgroundchören der Schlagerschnulzen. Keine Epoche der Musikgeschichte kommt ohne Chor aus. Und alle diese Epochen sind bis heute lebendig und werden weiterhin gesungen.
Spätmoderne, westliche Gesellschaften sind sehr stark durchkommerzialisiert. Immer wieder wird uns erklärt, wie wichtig Produktivität und wirtschaftliches Wachstum sei. Auch deswegen liebe ich das Chorsingen: es ist im Sinne des Bruttosozialproduktes völlig nutzlos. Und trotzdem ist es für sehr, sehr viele Menschen unentbehrlich. Auch wenn bei vielen Chorkonzerten natürlich Eintritt bezahlt werden muss, weil Kosten entstehen und gedeckt werden müssen: letztlich ist das, was dort entsteht nicht käuflich und unbezahlbar.

Musikgewordene Verkündigung.

Von den Hunderttausenden Chorsänger*innen in Deutschland singt ein sehr großer Teil christlich-geistliche Musik in Kirchen- und Gemeindechören. Dort bereichern die Sänger*innen die Gottesdienste mit gesungener froher Botschaft oder singen Konzerte als eine wichtige Facette des Gemeindelebens. Auch ich gehöre zu dieser Gruppe, von Beginn meiner Chorkarriere an habe ich in Kirchenchören gesungen. An vielen kath. Hauptkirchen gerade in den letzten Jahren florierende „Singschulen“ und Chöre entstanden, z.B. in Braunschweig und Frankfurt. So groß auch bei diesen Chören die Bandbreite ist, eine Sache verbindet all diese Gruppen und erweitert das Chorsingen noch einmal um eine weitere Dimension: hier wird Singen zu klangvoller Spiritualität, zur Musik gewordenen Verkündigung. Mir persönlich ist dieser Aspekt im Laufe der Jahrzehnte immer wichtiger geworden. Meine tiefsten Glaubenserlebnisse habe ich nicht beim Lesen eines geistlichen Buches oder beim Hören einer Predigt erlebt, sondern beim Singen von geistlichen Chorwerken. Wenn ich als Sänger bei der Aufführung der Matthäuspassion von Joh. Seb. Bach, des „Elias“ von Felix Mendelssohn Bartholdy oder einer Motette von Anton Bruckner mitwirken darf – um nur drei herausragende Beispiele zu nennen – dann öffnet sich für mich der Himmel.

Ein Thema für die theologische Vertiefung.

Viele Texte der Bibel (die ja häufig sowieso Gesänge sind, wie zum Beispiel alle Psalmen) sind von zahlreichen Komponist*innen durch die Musikgeschichte immer wieder eindrucksvoll vertont worden. Vielen Chorsänger*innen geht es vermutlich wie mir: wenn ich Textzeilen lese oder gesprochen höre, wie „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ oder „Hebe deine Augen auf“ erklingt in mir sofort eine dazugehörige Melodie aus einem Oratorium von Mendelssohn, oder Bach oder Brahms. Ich kann mir kaum eine andere Methode vorstellen, Texte der Bibel besser und nachhaltiger zu verinnerlichen als durch das Singen.
Dass zum gelingenden Chorgesang immer auch das gemeinsame Hören aufeinander gehört, lässt sich auch ekklesiologisch oder sogar synodal deuten: Ein Chor ist hierarchisch strukturiert, aber von einem gemeinsamen Ziel und Geist beseelt. Durch den gemeinsamen „sensus cantici“ kommt man der Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden näher. Ein spannendes Thema für eine theologische Vertiefung. Und überhaupt sollte in Synoden und bei Synodalen Wegen viel mehr gemeinsam gesungen werden!

Friedenskonzert in Münster und Osnabrück.

Zwei konkrete Chorereignisse haben mich in den letzten Wochen besonders bewegt: Im September dieses Jahres fand in Münster das nationale Treffen der Jugendchöre des Chorverbandes pueri cantores statt. Über 1.600 junge Menschen kamen in Münster zusammen, um gemeinsam zu singen, zu feiern und Gott zu loben. Die Botschaft des Friedens stand im Mittelpunkt. Die jugendlichen Sänger*innen haben die ganze Stadt mit Musik erfüllt und mit ihrem Engagement nicht nur sich selbst und ihre jeweilige Chorgemeinschaft, sondern auch die Münsteraner*innen bereichert und beschenkt. Mitte Oktober dann fand je ein Konzert in Münster und Osnabrück statt, bei dem ich selbst mitsingen durfte. Aus Anlass des 375jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens haben Orchester und evangelische und katholische Chöre aus beiden Städten gemeinsam das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms aufgeführt. Auch hier: es war als Friedenskonzert tituliert und wurde spontan den Kriegsopfern in der Ukraine und Israel gewidmet.

Mehr Singen!

Ich erlebe die Kirchenmusik als eine der Möglichkeiten, auch in Zukunft Begeisterung auszulösen. Mit Chormusik erreicht man weiterhin unglaublich viele Menschen. Allein in der Dommusik Münster, in der ich selbst aktiv bin, kommen mehrere hundert Menschen zum regelmäßigen Singen zusammen, der weitaus überwiegende Teil davon Kinder und junge Erwachsene. Und bei den Aufführungen in Gottesdiensten und Konzerten kommen dann noch die vielen hundert Angehörigen, Freunde und Bekannte als Zuhörende hinzu. Alle diese Menschen – singende wie zuhörende – erfahren etwas von der spirituellen Kraft, die in den Texten und Tönen der zu Gehör gebrachten Werke liegt. Im Gegensatz zu Gottesdiensten (vor allem denen ohne Chormitwirkung) sind Konzerte in Kirchen nahezu immer gut bis sehr gut besucht. Die „Klassiker“, wie das Weihnachtsoratorium von Joh. Seb. Bach oder das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart, wollen meistens mehr Menschen hören, als Plätze im Konzertraum vorhanden sind.

Ich frage mich häufig, was mein Beitrag sein könnte, die Welt ein klein wenig harmonischer und friedlicher zu machen. Meine Antwort darauf: Mehr Singen!

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Kratel-Andreas
Andreas Kratel, Dr. rer. nat, geb. 1968 ist promovierter Chemiker und Diplom-Theologe. Er lebt in Münster und arbeitet als Abteilungsleiter für Katholikentage und Großveranstaltungen im Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Berlin.
Autorenfoto: 102. Deutscher Katholikentag Stuttgart e.V.

 

[1] Titel aus der Motette „Jesu meine Freude“ von Johann Sebastian Bach, Textzitat aus dem dort verwendeten Choral von Johann Franck.

[2] Laut einer Studie des Deutschen Musikinformationszentrums singen in Deutschland mehr als 5,5 Mio. Menschen in Chören. „Amateurmusizieren in Deutschland. Ergebnis und Methodenbericht. März 2021“, hrsg. vom Deutschen Musikrat /Deutsches Musikinformationszentrum (miz) in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach (IfD), Bonn 2021.

[3] In der kath. Kirche in Deutschland singen Stand Oktober 2023 ca. 297.000 Menschen (siehe Statistik; Abruf 22.10.2023), in der ev. Kirche sind es ca. 347.000 (siehe Statistik, Abruf 22.10.2023).

 

Erschienen in „feinschwarz – Theologisches Feuilleton“ https://www.feinschwarz.net/ich-steh-hier-und-singe/

 

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